ANREGUNGSARENA
Text von David Hornemann v. Laer
Schau
hin!
Welche Rolle spielt meine eigene Perspektive bei der Urteilsbildung? Warum sollte ich meine Vorstellung an dem überprüfen, was ich sehe? Können gleichzeitig auch mehrere, widersprüchliche Standpunkte zu einer Sache Gültigkeit besitzen?
In der Brügger Liebfrauenkirche steht eine Madonnenfigur, die Michelangelo zwischen 1501-1504 geschaffen hat. Man kann sie dort nur von vorne sehen – denn sie steht in einer Nische. Aber es gibt eine Serie von Bildern, die sie von allen Seiten zeigt. Dieser Rundgang kann Dir zeigen, dass es einen ganz entscheidenden Unterschied macht, ob man weiß, wo man selbst steht – und aus welcher Perspektive man etwas betrachtet. Und dass es entscheidend wichtig sein kann, die Voraussetzungen zu reflektieren, die man in seinem Denken mitbringt, da man sie nur allzu leicht in den Gegenstand hineinsieht. Ein Urteil aus einer Perspektive läuft stets Gefahr, einer Sache nicht gerecht zu werden. Je mehr Blickwinkel wir einnehmen, desto reicher und differenzierter wird unser Urteil.
Fragen zu Bild 1
Was siehst Du? Eine verschleierte Frau? Eine Muslima? Eine Madonna? Wie würdest Du ihre Körper- und Kopfhaltung beschreiben?Versuche, Dir vorzustellen, wie die Skulptur aussehen wird, wenn Du Deine augenblickliche Perspektive veränderst und drei Schritte nach rechts um die Skulptur herumgehst, sodass Du sie von der Seite siehst: Wie wird ihre Haltung, die Drehung ihres Kopfes, der Eindruck von ihrer Sitzposition sein? Hast Du eine Vorstellung davon?
Fragen zu Bild 2
Passt deine Vorstellung mit dem überein, was du jetzt vor Augen hast? Hattest du das Kind vorausgesehen? Entspricht die Haltung der Frau dem, was du erwartet hast? Neues Spiel, neues Glück! Stell dir bitte vor, wie die Frau und das Kind von der gegenüberliegenden Seite aussehen werden: Welche Haltung werden Kopf und Oberkörper der Frau einnehmen? In welche Richtung wird sie schauen? Wie wird sich das Verhältnis zwischen Mutter und Kind darstellen? Nimm wieder die Schere und schneide die nächste Linie entlang.
Fragen zu Bild 3
Hand aufs Herz: Hättest du diese Ansicht erwartet? Die ärmliche Bekleidung, das grob durchlöcherte Manteltuch und die das Kind an der Schulter festhaltende Hand? Wie hat sich das Verhältnis zwischen Mutter und Kind verwandelt? Ist hier noch ein und dieselbe Frau zu sehen? Und wie verändert sich der Ausdruck des Kindes? Schau dir abschließend das Kunstwerk noch in der Vorderansicht an, in der es bis heute allein zu sehen ist, da es seit über 500 Jahren in einer dunklen Altarnische steht. Wie wird sich das Verhältnis von Mutter und Kind darstellen?
Fragen zu Bild 4
Entspricht die Kopf- und Körperhaltung der beiden deiner Vorstellung? Konntest du die Formverwandlung voraussehen, oder musstest du deine Vorstellung an dem tatsächlichen Sinneseindruck korrigieren?